Gedicht des Monats Oktober 2016

Die Geschichte von Huldreich Niedrig

Kaum war er entschlüpft dem gebärenden Schoß,
rief die Mutter: „Mein Sohn, werde mächtig und groß!
Im besten Falle wirst du größer als alle!“

Groß werden in der Kunst schied leider aus,
da bringt man höchstens Lorbeerblätter nach Haus.

So strebte der Junge das hehre Priesteramt an,
doch bald gefiel ihm eine Frau und er wurde Mann.

Danach hat er als Philosoph auf Berühmtheit gehofft,
aber die Sprossen der Weisheit zerbrachen zu oft.

Schließlich geriet er in den Urwald Politik.
Unglück! Dort wurde er gar nichts; er wurde nur dick.

Er wollte groß werden; musste es, zum Henker!
Es glückte in der Wirtschaft. Er wurde Banker,

hangelte sich hoch und höher auf der Karriereleiter.
Dann kam die Krise – und plötzlich wusste er nicht mehr weiter.

Eigenhändig beendete er seinen Lebenslauf
und hängte sich auf.

Am Ende blieb ein Kasten mit einmetersiebzig übrig.
Der reichte für den Herrn Niedrig.

Seine Mutter befahl dem Steinmetz Meister Moos:
„Gravieren Sie: ‚Huldreich Niedrig’ Aber bitte ganz groß!“

Und so erkannte jeder, der sah auf den Stein:
Niedrig muss ein ganz Großer gewesen sein.

Josef Butscher

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